Von Sarah Bergmann
Schon seit fast fünf Jahrhunderten geistert Don Juan als der große Verführer durch die Weltliteratur. Seine Geschichte ist einfach erzählt: Der Frauenheld, der die Eroberung liebt und das erotische Spiel mit wechselnden Partnerinnen genießt, verführt in rascher Abfolge Frauen und Mädchen, danach flüchtet er oder beweist sich als Held mit dem Degen, indem er die in ihrer Ehre gekränkten Väter bzw. Ehemänner im Duell ersticht. Am Ende erfolgt die gerechte Strafe: Der Erdboden tut sich auf und der Frevler wird in die Hölle geschickt. Als sich der Schriftsteller Max Frisch mit dieser alten Legende beschäftigt, kommt ihm ein origineller Einfall: Was, wenn Don Juan überhaupt kein Verführer ist, sondern ein Intellektueller, der wider seinen eigenen Willen in die Rolle eines Frauenhelden kommt? In seiner Komödie “Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie” (1961) führt Frisch diese Idee aus und er präsentiert dem Leser darin einen so neuartigen und psychologisch so interessanten Don Juan, daß es sich durchaus lohnt, diese Figur einmal in all ihren seelisch-geistigen Einzelheiten zu durchleuchten.
Don Juans Veranlagung Wie bereits im Titel zum Ausdruck kommt, dreht sich beim Frisch'schen Don Juan alles um die Geometrie, sie ist seine “Geliebte”, ja mehr noch, für ihn ist sie das Absolute, die Vollkommenheit, die ewige Wahrheit. Gegenüber seinem Freund Roderigo schwärmt Don Juan: “Ich habe noch nichts Größeres erlebt als dieses Spiel, dem Mond und Sonne gehorchen. Was ist feierlicher als zwei Striche im Sand, zwei Parallelen [...] schau in die Milchstraße empor, es ist Raum, daß dir der Verstand verdampft, unausdenkbar, aber es ist nicht das Unendliche, das sie allein dir zeigen: zwei Striche im Sand, gelesen mit Geist [...] ich bin voll Liebe, voll Ehrfurcht”. (S. 46) Nun besteht aber ein Mensch nicht nur aus Intellekt, er besitzt auch Sinnlichkeit und Gefühle. Wie ist es bei Frischs Don Juan darum bestellt? Ein besonders stark ausgeprägter Geschlechtstrieb ist ihm nicht eigen, im Bordell, in das ihn der Vater schickte, spielt er Schach. Und die Liebe? Ihr ist er schon begegnet, in der Gestalt von Donna Anna, die er heiraten möchte. Die erste Begegnung mit seiner zukünftigen Braut beschreibt Don Juan mit folgenden Worten: “Im Frühjahr, wie ich Donna Anna zum ersten Mal sah, hier bin ich auf die Knie gesunken, hier auf dieser Treppe. Stumm. Wie vom Blitz getroffen. [...] Ich werde das nie vergessen: wie sie Fuß vor Fuß auf diese Stufen sinken ließ, Wind im Gewand, und dann, da ich kniete, blieb sie stehen, stumm auch sie. Ich sah ihren jungen Mund, unter dem schwarzen Schleier sah ich den Glanz zweier Augen, blau. Es war Morgen wie jetzt, Roderigo, es war, als flösse die Sonne durch meine Adern. Ich hatte nicht den Atem sie anzusprechen, es würgte mich im Hals, ein Lachen, das nicht zu lachen war, weil es geweint hätte. Das war die Liebe, ich glaube, das war sie.” (S. 45)
Don Juans Wandlung In der Nacht vor der Vermählung ist von dieser Liebe allerdings nicht mehr allzu viel zu spüren: “Ich muß fort, Roderigo”, sagt Don Juan zu seinem Freund. “Noch bin ich frei”. Was ist da geschehen? Don Juan hat den personalen Bezug zu Donna Anna verloren (“Ich habe keine Ahnung mehr, wie sie aussieht.” “Ich kann sie mir nicht vorstellen – plötzlich.”), übrig geblieben ist nur eine allgemeine Liebe zum weiblichen Geschlecht: “Ich begreife mich selbst nicht, Roderigo [...] Ich glaube, ich liebe. [...] Ich liebe. Aber wen?” “Als ich ums nächtliche Schloß ritt, sah ich am Fenster ein junges Weib: Ich hätte sie lieben können, die erste beste, jede, so gut wie meine Anna.” Und er könnte nicht nur, er kann auch, die erste beste, der er in dieser Nacht begegnet: “Wir trafen einander im Park. Zufällig. [...] Und auf einmal war alles so natürlich.[...] im Finstern, da wir nicht wußten, wer wir sind, war es ganz einfach. Und schön.” (S. 16ff. u. 33) Don Juan vereinbart mit der Geliebten, sie in der folgenden Nacht zu entführen. Zuvor jedoch zwingen ihn noch die äußeren Umstände, vor den Traualtar zu treten. Er beschließt einen Meineid zu schwören, aber die Zeremonie beschert ihm eine große Überraschung; es zeigt sich, als der Schleier gelüftet wird: seine Braut Donna Anna ist das Mädchen der letzten Nacht. Donna Anna, beglückt über den Zufall, daß Liebhaber und Gemahl derselbe sind, leistet freudig den Eheschwur, Don Juan dagegen ist erschüttert und verweigert ihn: “Ich kann nicht schwören. Wie soll ich wissen, wen ich liebe? Nachdem ich weiß, was alles möglich ist – auch für sie, meine Braut, die mich erwartet hat, mich und keinen andern, selig mit dem ersten besten, der zufällig ich selber war...” “Lebwohl! Ich habe dich geliebt, Anna, auch wenn ich nicht weiß, wen ich geliebt habe, die Braut oder die andere. Ich habe euch beide verloren, beide in dir. Ich habe mich selbst verloren.” (S. 36f.)
In “Nachträgliches zu ‘Don Juan’” (in Wittmann, S. 138-144) beschreibt Max Frisch Don Juans Gemütszustand folgendermaßen: Don Juan, der bisher geglaubt hatte, seine Liebe bezöge sich nur auf eine einzige Person, nämlich Donna Anna, mußte nun feststellen “wie groß der Anteil des Gattungshaften daran ist”, er machte die “Erfahrung, wie vertauschbar der Gegenstand seines jugendlichen Verlangens ist”, und dies “muß den Jüngling, der eben erst zur Person erwacht ist, gründlich erschrecken und verwirren. Er kommt sich als ein Stück der Natur vor, blind, lächerlich, vom Himmel verhöhnt als Geist-Person. Aus dieser Verwunderung heraus kommt sein wildes Bedürfnis, den Himmel zu verhöhnen, herauszufordern durch Spott und Frevel.” Wie sieht dieser Spott aus? Don Juan, vom rachsüchtigen Vater Donna Annas mit Gefolgsleuten und Hunden quer über das ganze Anwesen gejagt, flieht von einer Kammer in die andere, von einer Frau zur nächsten. Seine erste Station heißt Donna Elvira. Es handelt sich dabei um Donna Annas eigene Mutter, die, erfahren im Ehebruch und hingerissen von der grazilen Gestalt Don Juans, diesen in ihr Zimmer zieht. Am Schluß seiner Odysee landet Don Juan bei Donna Inez, der Frau seines einzigen Freundes. Seine Erklärung: “Ich bin wißbegierig, mein Freund, von Natur. Ich fragte mich, ob ich dazu imstande bin. Inez ist deine Braut, und du liebst sie, und sie liebt dich. Ich fragte mich, ob auch sie dazu imstande ist.” Offensichtlich war sie es, und: “Sie hat dich nicht vergessen, Roderigo, nicht einen Augenblick, im Gegenteil, dein Name brannte auf unsrer Stirne, und wir genossen die Süße der Niedertracht, bis die Hähne krähten.” (S. 47 u. 50) Nicht allzu verwunderlich, daß sich Don Roderigo auf diese Mitteilung hin ersticht. Zu den Todesfällen, die alle mehr oder minder Don Juan zu verantworten hat, sind noch drei weitere zu zählen: Donna Anna ertränkt sich im Teich, Don Juans Vater erleidet einen Herzinfarkt, Don Gonzalo, Donna Annas Vater, wird von Don Juan getötet. Für einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden eine beachtliche Bilanz. Nach der bestürzenden Erfahrung, sich in der Liebe und damit auch in sich selbst getäuscht zu haben, schlägt Don Juan also einige Zeit um sich wie ein verwundetes Tier, dann beruhigt er sich aber wieder und beschließt, den Dickicht der Gefühle ganz einfach zu verlassen zugunsten der hehren Gefilde der Geometrie: “Ich sehne mich nach dem Lauteren, Freund, nach dem Nüchteren, nach dem Genauen; mir graust vor dem Sumpf unserer Stimmungen. Vor einem Kreis oder einem Dreieck habe ich mich noch nie geschämt, nie geekelt. Weißt du, was ein Dreieck ist? [...] das Scheinbare unabsehbarer Möglichkeiten, was unser Herz so oft verwirrt, zerfällt wie ein Wahn vor diesen drei Strichen. So und nicht anders! sagt die Geometrie. So und nicht irgendwie. Da hilft kein Schwindel und keine Stimmung [...] dort gibt es keine Launen, Roderigo, wie in der menschlichen Liebe; was heute gilt, das gilt auch morgen, und wenn ich nicht mehr atme, es gilt ohne mich, ohne euch.” “Ich fühle mich frei wie noch nie, Roderigo, leer und wach und voll Bedürfnis nach männlicher Geometrie.” (S. 46f.) – Wollen wir einmal sehen, was daraus wird!
Don Juans Leben als Frauenheld Was das äußere Leben des Protagonisten anbelangt, betritt Frisch an dieser Stelle wieder traditionellen Boden. Entgegen Don Juans eigener Neigung und Absicht ist sein Leben schon bald voll von Weibergeschichten und daher ohne Zeit für Geometrie. Allerdings ist Frischs Don Juan nicht der Verführer, sondern der Verführte, die Frauen werfen sich ihm an den Hals. Was an Frischs Don Juan so anziehend wirkt, ist gerade seine Geistigkeit. Um zu erklären, wie dies funktioniert, zitiert Frisch in “Nachträgliches zu ‘Don Juan’” einen Passus aus Ortega y Gassets “Der Intellektuelle und der Andere”: “Die Welt, die der Intellektuelle antrifft, scheint ihm nur dazusein, damit sie in Frage gestellt werde. Die Dinge an sich genügen ihm nicht. Er macht ein Problem aus ihnen. Und das ist das größte Symptom der Liebe. Daraus resultiert, daß die Dinge nur sind, was sie sind, wenn sie für den Intellektuellen sind. Dies ahnt manchmal das Weib...” Don Juan verführt also nicht aktiv, trotzdem gehören zu einer Verführung immer zwei, und Don Juan läßt sich verführen. Wie ist dies zu erklären? Zum einen ist Don Juan wohl “auf den Geschmack gekommen”, er ist ein Mann geworden und als solcher tut er sich natürlich schwer, ohne Frau zu leben. Da er zu seelischer Liebe nicht fähig ist, bedient er sich der Frau als Episode, “mit dem bekannten Ergebnis freilich, daß die Episode schließlich sein ganzes Leben verschlingt.” Zum zweiten ist es so, daß die Wunde, welche ihm die Ereignisse rund um seine geplante Hochzeit zufügten, ab und an wieder aufbricht, und ihn dann erneut eine heftige Lust zu freveln überkommt. Und zum dritten: “Hinter jedem Don Juan steht die Langeweile, wenn auch mit Bravour überspielt, die Langeweile, die nicht gähnt, sondern Possen reißt; die Langeweile eines Geistes, der nach dem Unbedingten dürstet und glaubt erfahren zu haben, daß er es nie zu finden vermag; kurzum, die große Langeweile der Schwermut”. Don Juan dürstet also nach dem Absoluten, dieses vermag er jedoch nicht zu finden, auch nicht in der Geometrie, wo er es mit der vierten Dimension zu tun bekommt, deren Existenz er zwar beweisen kann, deren Wesen aber seinen Verstand, sein Vorstellungsvermögen übersteigt. Und weil ihn seine geliebte Geometrie nicht zum Absoluten führt, begeht der schwermütige Intellektuelle eine “hoffnungslos vergebliche Flucht in die Außenwelt vor der düsteren Ungelöstheit seines Innern”, er wirft sich in die Arme der Frauen, benutzt diese als ein “Narkotikum”. (“Nachträgliches”) Da die Frauen nicht sein eigentliches Ziel sind, kann Don Juan also weder mit seinem Leben im ganzen noch während seiner einzelnen Liebesaffairen wirklich glücklich werden.
Frisch schreibt dazu: “Es reißt ihn nicht von Wollust zu Wollust”, sondern “es stößt ihn ab, was nicht stimmt. Und nicht, weil er die Frauen liebt, sondern weil er etwas anderes [...] mehr liebt als die Frau, muß er sie immer wieder verlassen.” (ebd.) Da für Don Juan auch die körperliche Liebe immer mit einem ekelerregenden, abstoßenden Beigeschmack behaftet ist, nimmt es nicht wunder, daß er seine Liebesabenteur irgendwann bis zum Erbrechen satt hat: “Ihre verzückten Münder, ihre Augen dazu, ihre wässerigen Augen, von Wollust schmal, ich kann sie nicht mehr sehen!” Doch obwohl Don Juan der Frauen, die in seinen Armen “alle so ähnlich, bald zum Erschrecken gleich” sind, längst überdrüssig ist, ist er gezwungen, sein Leben als Don Juan weiterzuführen, denn er ist ein Verfolgter der Frauen und ihrer Ehemänner: Die “Ehegatten ziehen die Klinge, bevor ich die Dame auch nur bemerkt habe, so muß ich mich schlagen, wo ich stehe und gehe, Übung macht mich zum Meister, und noch bevor ich meine Klinge wieder einstecke, hangen die Witwen an meinem Hals, schluchzend, damit ich sie tröste. Was bleibt mir andres übrig, ich bitte sie, als meinem Ruhm zu entsprechen, Opfer meines Ruhms zu sein [...] oder aber: ich lasse die Witwe einfach liegen [...] und gehe meines wirklichen Wegs, was alles andere als einfach ist [...], wir kennen die lebenslängliche Rachsucht des Weibes, das einmal vergeblich auf Verführung gehofft hat”. (S. 50 u.64f.) Außerdem besitzt Don Juan noch ein seelisches Problem: insgeheim hoffte er in seiner These, seelische Liebe sei ein bloßer Wahn, widerlegt zu werden. Aber weder himmlischen noch irdischen Mächten ist dies gelungen, und so spricht er als ein gebrochener Mann: “Nicht bloß der Damen bin ich müde, ich meine es geistig, ich bin des Frevels müde. Zwölf Jahre eines unwiederholbaren Lebens: vertan in dieser kindischen Herausforderung der blauen Luft, die man Himmel nennt! Ich bin vor nichts zurückgeschreckt, aber [...] meine Frevel haben mich bloß berühmt gemacht. Ich bin verzweifelt.” (S. 64) Verzweifelt, auf der Flucht vor den Frauen, auf der Flucht vor den Männern, auf der Flucht vor sich selbst, der Langeweile im Innern – dieser Don Juan erlebt schon während seines Lebens als Frauenheld eine Höllenfahrt.
Don Juans Schuld Womit hat Don Juan dies eigentlich verdient? Worin besteht seine Schuld? Vergegenwärtigen wir uns Don Juans erste Begegnung mit Donna Anna: Es ist Frühling, es ist Morgen, die Sonne scheint; mit anderen Worten: Don Juans Hormonproduktion ist angeregt und in seinem Kopf zirkuliert eine ordentliche Ladung Glücksgefühle evozierender Neurotransmitter. Natürlich ist Don Juan in diesem Zustand empfänglich für die Liebe, und es verwundert gar nicht, daß Donna Annas Erscheinung ihn in Entzücken versetzt; der junge Mund, die glänzenden, blauen Augen, der Wind im Gewand... Verständlich auch, daß weder er redet noch sie, Worte würden den Zauber des Augenblicks nur zerstören. Nun gut – aber die Beziehung der beiden bleibt augenscheinlich auf dieser oberflächlichen, unpersönlichen Ebene stehen. Don Juan gibt sich offenbar keine Mühe, Donna Annas Wesen kennenzulernen, die Beziehung zu intensivieren, denn wie sonst ließe sich erklären, daß er sich am Tag vor der geplanten Hochzeit nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern kann? Don Juans Fehler besteht darin, daß er ist von Anfang an nicht bereit ist, sich auf eine persönliche Bindung einzulassen, weshalb seine Liebe zu gattungshaft bleibt, und zweitens ist er auch nicht bereit, sich mit den Verwirrungen und Anfechtungen, die der (nicht zu vermeidende) gattungshafte Anteil der Liebe nunmal mit sich bringt, auseinanderzusetzen, vielmehr erklärt er einfach die seelische, auf ein besonderes Individuum gerichtete Liebe für null und nichtig und versucht den Rückzug in die Geometrie.
In “Nachträgliches” schreibt Max Frisch: “Don Juan, geistig bestimmt, ist die Hybris, daß einer allein, Mann ohne Weib, der Mensch sein will”. Er will “das Leben eines NurMannes [führen], womit er der Schöpfung unweigerlich etwas schuldig bleibt.” “Ohne das Weib, dessen Forderungen er nicht anzuerkennen gewillt ist, wäre er selber nicht in der Welt.” Woher kommt eigentlich Don Juans Hybris, ein Nur-Mann sein zu wollen? Max Frisch gibt uns in diesbezüglich folgende Information: Don Juan ist “schlank wie ein Torero, fast knabenhaft. [...] Man wird sich immer wieder fragen: Ist er ein Mann? [...] Seine Männlichkeit bewegt sich auf der Grenze und ist ihm nichts Selbstverständliches, sondern etwas Kostbares [...]; seine Männlichkeit ist etwas Gefährdetes. [...] Der Gefährdete neigt zum Radikalen.” Der Grund dafür, daß Don Juan “ohne Du” bleibt, d. h. personale Bindungen scheut, ist also die “Angst, sich selbst zu täuschen, sich selbst zu verlieren – seine wache Angst vor dem Weiblichen in sich selbst.” (ebd.) Was haben wir uns nach Frisch unter diesem Weiblichen vorzustellen? Zur Sphäre des Weiblichen gehört zum einen die Sinnlichkeit. Für Don Juan ist die sinnliche Begierde zugleich immer mit Abscheu gemischt. In die weibliche Domäne fällt außerdem der Wunsch nach Familie, der dem Trieb, die menschliche Spezies zu erhalten, entstammt. Für Don Juan bedeuten Kinder eine Schlinge um den Hals. Und last but not least steht das Weibliche auch für die Gefühle. Mit ihnen hat Don Juan das größte Problem.
Gefühle besitzen nicht die Exaktheit, Transparenz und Beständigkeit geometrischer Gesetze, deshalb verursachen sie mancherlei Schwierigkeiten und auch Selbsttäuschungen, welche (aufgrund der gestörten Ich-Erkenntnis) mit einem partiellen Ich-Verlust einhergehen. Solange die Täuschung besteht, wird dieser Ich-Verlust natürlich nicht bemerkt, sobald die Selbsttäuschung jedoch entlarvt oder erahnt wird, setzt oftmals die größte Verwirrung ein; man weiß nicht mehr so richtig, wer man eigentlich ist. Nach der Entdeckung, daß seine Liebe zu Donna Anna mehr gattungshaft denn auf das Individuum bezogen gewesen ist, erfährt Don Juan genau diese Verwirrung, und, wie es für ihn bezeichnend ist, erlebt er sie besonders radikal: “Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, ach Roderigo, dann hört unser Sturz nicht mehr auf, und es saust dir in den Ohren, daß du nicht mehr weißt, wo Gott wohnt. Stürze dich nie in deine Seele”. (S. 48) Was speziell das Gefühl der Liebe anbelangt: Don Juan argwöhnt, daß die Liebe neben der möglichen Selbsttäuschung noch in einer anderen, mehr generellen Hinsicht die Gefahr enthält, daß man sich selbst verliert. Die Angst davor, sich mit Leib und Seele einer Frau hinzugeben und damit einen Verrat an der Geometrie zu begehen, ist wohl der Grund, warum seine Liebe zu Donna Anna so oberflächlich bleibt. Den Irrtum, dem Don Juan dabei erliegt, besteht darin, daß “er Selbstlosigkeit, den wahren Zustand der Liebe, mit Verlust des Selbst verwechselt.
Da er die berechtigten Ansprüche des Dus einfach abstreitet, kapselt er sich in eine selbst konstruierte Welt ein und schließt sich konsequent von jeder menschlichen Beziehung aus, die ihm allein zur Feststellung einer lebensfähigen, schöpferischen Identität hätte verhelfen können.” (Schmitz, S. 296) Und was die Täuschungen betrifft: Es ist gewiß besser, sich ab und an zu täuschen, als aufgrund einer Täuschung die gesamte Welt der Gefühle und Gefühlsbeziehungen panikartig zu verlassen. Dadurch daß Don Juan sich dauerhaft weigert, Gefühle, insbesondere Gefühle für andere Menschen, zuzulasssen, erleidet er den Verlust eines wesentlichen Teils seiner menschlichen Identität. Ohne diesen Teil kann nun mal auch der andere, von ihm besonders gehegte Teil seiner Identität, seine Liebe zur Geometrie, nicht prosperieren. Nach zwölf Jahren eines gefülssterilen und infolgedessen völlig verkorksten Lebens hat Don Juan endgültig die Nase voll davon, ein Frauenheld zu sein. Deshalb versammelt er seine Ex-Geliebten und inszeniert vor ihnen seine eigene Höllenfahrt. Der Schwindel wird geglaubt, die Legende ist geboren. Und wo bleibt Don Juan nach dem Höllenfahrtsspektakel? Dies soll hier nicht verraten werden, nur soviel: Don Juan erfährt genau die Strafe, die seiner männlichen Hybris gebührt.
Literatur: Frisch, M.: Stücke Band 2. Frankfurt a. M. 1962 Schmitz, W. (Hg.): Frischs “Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie”. Frankfurt a. M. 1985 Wittmann, B. (Hg.): Don Juan – Darstellung und Deutung. Darmstadt 1976
(E.A.M. Berlin 02-2006) S.B.
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