Friedrich Nietzsche und die Götter

Von Sarah Bergmann

 

Sie denken, die Götter des antiken Griechenland seien spätestens seit Untergang der Klassik so ziemlich passé? Nun, zumindest nicht für einen der herausragendsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts: Friedrich Nietzsche (1844-1900). In seinem Erstlingswerk “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” (1872) begründet Nietzsche eine Kunsttheorie, in welcher die Kunst in zwei einander entgegengesetzte Sphären zerfällt, die er die dionysische und die apollinische Sphäre nennt. Der große Traditionsbrecher Nietzsche würdigt hier also eine ganz alte abendländische Tradition, und bevor wir einen Blick auf seine (trotz allem traditionellen Gehalt) revolutionäre Kunsttheorie werfen, soll auch an dieser Stelle erstmal eine Rückbesinnung stattfinden. Dionysos und Apollo, wer waren diese berühmten Gottheiten eigentlich, was verrät uns die griechische Mythologie über sie?

 

Dionysos

 

Dionysos (Bakchos), Sohn des Zeus und der sterblichen Semele, wächst fern von den übrigen Göttern im Nysa-Gebirge auf, wo er von Nymphen und dem alten Silen, dem Anführer der Satyrn (Fruchtbarkeitsdämonen, später Anhänger des Dionysos) großgezogen wird. Als junger Mann hält Dionysos Einzug in den Olymp. Schon seine Kindheitsgeschichte zeigt deutlich, daß Dionysos mit der Natur in enger Verbindung steht. Dionysos ist der Gott der Vegetation, außerdem erscheint er in vielen Darstellungen in tierähnlicher Gestalt. Begibt man sich in die Gefolgschaft des Gottes, so kann dies zu einem paradiesischen Einswerden mit der Natur führen. Euripides ( 5. Jhdt. v. Chr.) berichtet in seinem Drama  “Die Bakchen” von den Mänaden, den weiblichen Anhängern des Gottes: Die Frauen trugen “Hirschkalbfelle [...] und umgürteten mit Schlangen, die ihre Wangen leckten, die gefleckte Tierhaut. Und junge Mütter [...] hielten auf dem Arm ein Rehkitz oder auch ein wildes Wölflein und säugten es und Kränze legten sie sich um aus Efeu, Eichenlaub und blütenreichen Winden. [...] Manch andere stieß ihre Gerte in den Boden, da ließ die Gottheit einen Born von Wein aufsprudeln.” (S. 153) Von Anfang an ist Dionysos der Gott des Rausches, der Verzückung, der ekstatischen Selbstvergessenheit, erst später jedoch wird seine enge Beziehung zum Wein etabliert. In seiner Darstellung als Weingott ist Dionysos ein blondgelockter Jüngling mit strahlenden Augen; seine Attribute sind Efeukranz, Trinkgefäß und der Thyrsosstab, ein Rohr mit einem Busch aus Efeublättern. Dionysos ist der Gott der orgiastischen Feste, der ausgelassenen Lebensfreude und der schwärmerischen Hingabe an die Sinnlichkeit. Obwohl Sinnlichkeit und Ausschweifungen viel mit Sexualität zu tun haben, Dionysos als Vegetationsgott zudem für Fruchtbarkeit steht und seine außerordentliche Schönheit von vielen Quellen bezeugt wird, spielt die Erotik für ihn eine eher marginale Rolle. So besitzt Dionysos im Gegensatz zu den meisten anderen olympischen Göttern auch nur eine Geliebte (Ariadne). Dionysos hat zahlreiche Feinde, z. B. Pentheus in “Die Bakchen”, welcher Rationalität und Ordnungsliebe verkörpert und dem “tollen Bakchosspuk” ein Ende setzen will. (S. 131) Seine Gegner straft der Gott mit Verblendung, Geisteskrankheit, besinnungsloser Raserei. Für den Kult des Dionysos sind zwei Elemente charakteristisch, zum einen die für die Antike außergewöhnliche Intoleranz der “Dionysos-Jünger” und zum anderen die aufwendigen Inszenierungen bei Dionysosfesten. Dabei verkleiden sich seine Anhänger als Satyrn und Mänaden, führen als solche ekstatische Tänze und wilde Spiele auf oder prozessieren große Phalloi vor sich hertragend durch die Stadt. 

 

 

Apollo

 

Apollo (Phoibos), Sohn des Zeus und der Göttin Leto und Zwillingsbruder der Artemis, wird oft der griechischste der griechischen Götter genannt. Dem Gott, einer hübschen, athletischen, jugendlichen Erscheinung, werden vielfältige Aufgaben und Einflußbereiche zugeschrieben: Apollo ist der Sonnengott, der Führer der neun Musen, ihm obliegt es, Ordnung zu schaffen und zu bewahren und über die Einhaltung des rechten Maßes zu wachen, außerdem ist er der Gott der Herden, der Schiffahrt, des Bogenschießens, der Musik (sein Attribut ist die Leier), der Dichtkunst, der Prophezeiung und der Medizin. Man beachte, daß Prophezeiungen das menschliche Leben ordnen, und die Medizin die Ordnung des Organismus restauriert. Als Ordnung schaffender Gott nimmt sich Apollo zudem der Aufgabe an, junge Männer in die Gesellschaft der Erwachsenen einzuführen.

 

Auffällig ist auch, daß sich viele Heiligtümer des Apollo am Stadtrand befinden, also an der Grenze zwischen staatlicher, religiöser und kultureller Ordnung auf der einen und Wildnis auf der anderen Seite. Apollos Geburt war von Gerüchten begleitet, er würde sich zum brutalen Tyrannen entwickeln, die olympischen Götter stürzen und die ganze Erde mit einer Schreckensherrschaft überziehen. Als Apollo bogenschwingend in den Olymp einzieht, springen selbst die Unsterblichen erschrocken von ihren Stühlen auf. Die Angst ist jedoch unbegründet, Apollo stellt sich sogleich expressis verbis in den Dienst seines Vaters Zeus. Der zarte Klang seiner Leier bringt den Göttern und Menschen Harmonie, sein Bogen verteidigt die Zeusherrschaft  und sein Orakel (in Delphi) teilt Zeus’ Willen der Menschheit mit. Trotzdem hat Apollo (was von Joachim Winckelmann, Nietzsche und anderen Antikenkennern des neunzehnten Jahrhunderts gerne übersehen wurde) auch seine negativen Seiten, er, der für die Einhaltung des rechten Maßes steht, ist selbst manchmal exzessiv bis zur Grausamkeit.

 

Die griechische Mythologie liefert uns zahlreiche Beispiele: Obwohl Apollo als hervorragender Bogenschütze in erster Linie mit der Jagd assoziiert ist, richtet sich sein Pfeil auch gegen Menschen. So töten er und seine Schwester Artemis beispielsweise die zwölf Kinder der Niobe, weil diese Leto gegenüber mit ihrem Kinderreichtum geprahlt hatte. Eine äußerst grausame Bestrafung, und daß die Kinder für ihrer Mutter Hochmut bezahlen müssen, ist einfach ungerecht. Homers “Ilias” beginnt damit, daß Apollo den Achaiern die Pest sendet, auf ein Fehlverhalten nicht etwa des Volkes, sondern einzig ihres Herrschers Agamemnon hin. Auch in seiner Sexualität ist Apollo unmäßig und schreckt sogar vor Vergewaltigungen nicht zurück. Die arme Daphne muß in einen Lorbeerbaum verwandelt werden, um vor seinen Nachstellungen sicher zu sein. Für seine Schützlinge, die Heranwachsenden, ist der Gott ebenfalls nicht immer ein Segen. Dem Jüngling Orestes beispielsweise wird von Apollo auferlegt, seine eigene Mutter zu töten. Die Tatsache, daß der Gott der Ordnung Vergewaltigungen und sonstige Verbrechen begeht, liegt darin begründet, daß Apollo selbst ein Heranwachsender ist und somit in gewissem Sinne noch außerhalb der Ordnung steht.

 

Kommen wir jetzt zu der höchst eindrucksvollen Philosophie, die Nietzsche seinen Lesern in  “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” präsentiert:

Das Ur-Eine Nach Nietzsche bildet das sogenannte “Ur-Eine” die metaphysische Grundlage der Welt. Das heißt, alles, was wir auf der Ebene der Erscheinungen als getrennt voneinander existierend wahrnehmen, ist in Wirklichkeit ein Bestandteil des Ur-Einen. Als im “Schleier der Maja” Befangene erkennen wir dies nur nicht. (S. 395) Das Ur-Eine ist der “Wille”, welcher aufgrund seiner “überschwenglichen Fruchtbarkeit” und aus einer “unbändigen Daseinsgier und Daseinslust” heraus, unentwegt schöpferisch tätig ist und die Myriaden von Erscheinungen schafft. Weil der Wille pausenlos Neues und Neuartiges in die Welt setzen möchte, dürfen die individuellen Erscheinungen nicht von ewiger Dauer sein, sondern müssen nach Ablauf der ihnen zugestandenen Zeit ihren Platz zugunsten der jüngeren “Willensgeburten” räumen. (S. 464)  Da die Individuen aus dem Stoff des Willens gemacht sind, haben auch sie eine gute Portion Daseinslust abbekommen. Für die Menschen, die sich des Todes und seiner Notwendigkeit bewußt sind, stellt dieser deshalb eine Entsetzlichkeit dar. Auch hat der Wille jedem seiner Geschöpfe mehr oder weniger von seiner unersättlichen Gier vererbt, welche den bloßen Lebenserhaltungstrieb zum Teil weit übersteigt. Im Kampf ums Dasein und aus Gier quälen und vernichten sich die einzelnen Individuen gegenseitig ohne Unterlaß. Bei aller Daseinslust ist also das Ur-Eine letztendlich der Wille, der sich selbst zerfleischt. Deshalb nennt Nietzsche es auch das “Ewig-Leidende und Widerspruchsvolle”. Das Ur-Eine bildet den metaphysischen Grund für das “Entsetzliche oder Absurde des Seins”. (S. 402 u. 419)

 

Das Dionysische Auch wenn sich der Schleier der Maja über die ganze Welt gelegt hat, so ist es dem Menschen doch ab und an möglich, mit dem Ur-Einen zu verschmelzen, selbst das UrEine zu werden. Dazu muß er sich im Zustand des dionysischen Rausches befinden. In diesen Zustand führt den Menschen die ekstatische, klanggewaltige dionysische Musik. Was geschieht mit einem Menschen, der, bis ins Mark von der dionysischen Musik durchdrungen, aus der Sphäre der Erscheinungen fortgerissen wird, eintaucht in metaphysische Tiefen und bis zum Quell des Lebens, dem Ur-Einen vorstößt, mit welchem er schließlich zu einer Einheit verschmilzt? Auf der einen Seite macht dieser Mensch eine ganze Reihe beglückender Erfahrungen.

 

Für die Dauer des dionysischen Rausches ist er von seiner individuellen Existenz befreit, aller damit einhergehenden Sorgen und Plagen ledig, allem Verdruß über sein Leben und allem Anstoß, den er an seinem eigenen Selbst nimmt, entbunden. Außerdem fühlt er die Wonne des Einswerdens mit der ganzen Menschheit und mit der Natur, ja mit dem Göttlichen sogar: “Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit [...] Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: Als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah.” Durch sein Verschmelzen mit dem Ur-Einen erfährt das Individuum auch den “metaphysische[n] Trost [...], daß das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei”. Der dionysisch entrückte Mensch lernt auf diese Weise die Unendlichkeit kennen und das Leben, gesteigert bis zu einer Intensität, wie er es sich nie hätte träumen lassen. (S. 417f.) Soweit schön und gut, aber nach Nietzsche erlangen die Menschen das Beste und Höchste immer nur durch einen Frevel und müssen als dessen Folge großes Leid ertragen. So verhält es sich auch in diesem Fall. Im dionysischen Rauschzustand überschreitet der Mensch in frevelhafter Weise die Grenzen seiner Individualität und maßt sich an, das Ur-Eine zu sein. Zur Strafe bekommt er die Kehrseite des Ur-Einen am eigenen Leib zu spüren; er erfährt dieses als den Willen, der sich in seiner schrankenlosen Gier nach neuen Ausdrucksformen selbst in Stücke reißt und sein eigen Fleisch und Blut dem erbarmungslosen Kampf ums Dasein und dem Verderben preisgibt. Aus dem dionysischen Rausch nimmt der Mensch auch die Erkenntnis mit, als Individuum nur ein nichtiger Spielball in den Händen des Ur-Einen zu sein; ihn überkommt ein Ekel vor seiner alltäglichen Wirklichkeit und vor seinen Handlungen und Plänen, um deren Sinnlosigkeit er jetzt weiß.

 

Wenn ein Mensch das Ur-Eine, und somit all die Entsetzlichkeiten des Daseins, geschaut hat, wäre es für ihn nur natürlich, “sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen”, gäbe es da nicht die Kunst, welche ihn in aller Regel davor bewahrt. Die Kunst – das ist zum einen das Dionysische, die Musik, welche “die Dissonanz ebenso wie das schreckliche Weltbild” verklärt und es dadurch ermöglicht, das Leben als ganzes, mit seinem Leiden, seiner Grausamkeit und Sinnlosigkeit, zu bejahen und auf diese Weise auch seine lustvolle, freudenreiche Seite voll ausschöpfen zu können. (S. 418 u. 504) Die Kunst besitzt jedoch noch einen zum Dionysischen konträren Part, womit wir beim Apollinischen angelangt wären: 

 

Das Apollinische

 

Das Apollinische ist der Bereich der bildenden Kunst. Als bildender Künstler ist Apollo der Gott des “principii individuationis”, d. h., er ist dafür zuständig, aus den Geschöpfen des Ur-Einen die mannigfaltigen einzelnen Erscheinungen zu gestalten. Die Welt der Erscheinungen (d. h. also die Welt, wie wir sie normalerweise wahrnehmen, wenn wir uns nicht gerade im dionysischen Rauschzustand befinden) wird aber nicht nur von Apollo geschaffen, er waltet auch über sie. Als ordnungsliebender Herrscher setzt er die “Gerechtigkeitsgrenzen”, sorgt dafür, daß die Individuen Maß halten und gemäß der von ihm verliehenen Selbsterkenntnis ihre persönlichen Grenzen nicht überschreiten, außerdem schafft er politische, kulturelle und überhaupt jedwede Art von Ordnung. (S. 393 u. 431)

 

Die negativen Seiten des Apollinischen sind zum einen die Kreation einer “künstlich gedämmten Welt”, in der nie diese unbändige Lebenslust, in der das Ur-Eine schwelgt, erfahren werden kann, und zum anderen die Errichtung unzähliger Barrieren, v. a. zwischen den Menschen. Nicht erkennend, daß sie in Wahrheit alle eins sind, machen die Menschen sich selbst und anderen das Leben schwer, indem sie Verachtung, Mißgunst und Haß in sich tragen und sich dementsprechend verhalten. (S. 404) Im großen und ganzen aber bereitet uns die apollinische Sphäre der Erscheinungen viel Vergnügen; wir erfreuen uns an der phantastischen Schönheit der Natur, an der bunten Vielfalt menschlichen Lebens und nicht zuletzt an unserer eigenen Individualität. Wenn wir einen Sonnenuntergang betrachten, einem Kind beim friedlichen Spiele zusehen..., d. h. in die Kontemplation der apollinischen Schönheitswelt versunken sind, schweigt die Gier, die uns, den Geschöpfen des Willens, innewohnt. Solange wir uns im ästhetischen Zustand befinden, sind wir “durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen” befreit, wir sind ruhig, heiter, gelöst. Auch wenn das Apollinische seine Individuen nicht ständig auf diese Weise zu verzaubern vermag, so hält es sie doch fast pausenlos in seinem Bann und erfüllt damit eine eminent wichtige Funktion: Während die im Schleier der Maja befangenen Individuen mit den Erscheinungen tändeln, erkennen sie nicht bzw. vergessen sie die grauenvolle Wahrheit in Gestalt des sich selbst zerfleischenden Ur-Einen, und das ist der Grund, weshalb das Ur-Eine die apollinische Sphäre als “die entzückende Vision, den lustvollen Schein zu seiner steten Erlösung braucht.” (S. 402f. u. 479)

Das Apollinische erschöpft sich nicht darin, die Scheinwelt der Individuen zu erzeugen, es produziert auch den “Schein des Scheins”, welcher potenziertes Entzücken bedeutet. Zu diesem Schein des Scheins zählen sowohl die Werke der bildenden Kunst und der Epik, als auch der schöne Traum. (S. 403) Wenn wir einen schönen Traum haben, in die Betrachtung eines Kunstwerkes oder die Lektüre eines Romans versunken sind, befinden wir uns in dem ebenso erstrebenswerten wie seltenen Zustand, in dem uns der Wille nicht bedrängt und wir deswegen mit großem Behagen den Schein des Scheins genießen können.

 

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß das Dionysische und das Apollinische, so konträr die beiden Kunstformen auch sind, letztendlich den selben Zweck verfolgen, nämlich die Rechtfertigung der “ihrem innersten Wesen nach unendlich grausamen und leidvollen Welt”. (S. 410) Das Dionysische leistet seinen Beitrag, indem es das Entsetzliche verklärt, das Apollinische, indem es selbiges bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. 

Geburt und Untergang der antiken Tragödie Im zweiten Teil seines Werks schildert Nietzsche, wie sich das Dionysiche und das Apollinische in der Antike erst feindlich gegenüberstehen, bis sie erkennen, daß sie aufeinander angewiesen sind. Sie gehen daraufhin ein “geheimnisvolles Ehebündnis” ein; dieses erweist sich als fruchtbar und bringt die attische Tragödie hervor. (S. 405) Der Keim der Tragödie liegt im Chor, der aus Dithyramben singenden und ekstatisch tanzenden Satyrn besteht. Die Satyrn sind die Verkünder der dionysischen Weisheit und die Verkörperung der mächtigen triebhaften und chaotischen Natur. Ihnen gegenüber nimmt sich der “Kulturmensch” als “lügenhafte Kreatur” aus. Die Aufgabe des Chores besteht darin, die Zuschauer in dionysische Stimmung zu versetzen, in der sie das ewige Leben hinter dem Wechsel der Erscheinungen erblicken und an der überschäumenden Lebenslust des Ur-Einen teilhaben.

 

In diesem Zustand halten die Zuschauer die Geschehnisse auf der Bühne für eine “aus ihrer eigenen Verzückung geborene Vision”. (S. 420 u. 424) Die Tragödie verkündet gleichnishaft die dionysische Weisheit, nicht umsonst aber beinhaltet ihre Aufführung auch starke apollinische Elemente (das Bühnenbild, die Kostüme, die durch Einfachheit, Klarheit und Präzision bestechenden Dialoge), denn ohne diese wäre die Wirkung des Satyrchores zu mächtig, die Zuhörer könnten als Individuen vor der gewaltig hervorbrechenden “Metaphysik” nicht bestehen. Die Tragödie, dieses großartige den metaphysischen Trost und die apollinische Schönheitswelt vereinende Kunstwerk, erlebt jedoch schon bald, mit dem Einzug des “Sokratischen” in die antike Welt, ihren Untergang. Sokratisch nennt Nietzsche den Glauben, die menschliche Vernunft könne die Welt durch und durch begreifen, gepaart mit der Überzeugnug, daß logisches Denken und empirisches Wissen tugendhafte Menschen schaffe und ein glückliches Erdendasein ermögliche. Es ist klar, daß das Sokratische eine im dionysischen Rausch geoffenbarte angebliche Wahrheit nicht akzeptieren kann, schon gar nicht, wenn diese eine Entsetzlichkeit darstellt, welcher der Mensch machtlos gegenübersteht. 

 

Nietzsches Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Tragödie In seiner eigenen Zeit sieht Nietzsche dem Dionysischen zwei mächtige Feinde entgegengestellt: Zum einen ist das Sokratische zu einem Grundpfeiler der modernen westlichen Kultur geworden, zum anderen herrscht die idyllische Vorstellung, daß der Mensch von Natur aus nicht etwa Satyr, sondern ein sanftmütiger, Liedchen trällernder Schäfer sei. Dieses “Schmeichelbild eines zärtlichen, flötenden, weichgearteten Hirten” wird vor allem durch die Oper verbreitet. (S. 419) Jüngste Entwicklungen jedoch geben Nietzsche Anlaß zur Hoffnung, daß dem Dionysischen bald wieder die rechte Würdigung zuteil werden wird. Besonders begeistert ist Nietzsche davon, daß in Deutschland wieder dionysische Musik geschaffen wird, von Bach über Beethoven bis zu Wagner in zunehmend reiner, gewaltiger, virtuoser Form. Wenn das Dionysische wieder in der deutschen Kultur Einzug hält, kann die Tragödie noch einmal entstehen und den sich so aufgeklärt dünkenden neuzeitlichen Vernunftmenschen aus der Schalheit seines Lebens in eine Welt der Leidenschaft und der Wunder entführen.

 

Auch wenn sich Nietzsche in seiner Prognose irrte und eine Renaissance der Tragödie im antiken Sinne bisher ausgeblieben ist, so ist “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” dennoch auf jeden Fall ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich für Philosophie, die Antike und / oder Kunst interessieren, da es, in sprachliche Brillanz gekleidet, hochinteressante Gedanken enthält.

 

Literatur:

 

Euripides: Tragödien VI. Berlin 1980 Hamdorf, F.: Dionysos/Bacchus – Kult und Wandlungen des Weingottes. München 1986 Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra – und andere Schriften. Bindlach 1995 Solomon, J.: Apollo – Origins and Influences. Tucson and London 1994

 

(E.A.M. Berlin 09-2006) S.B.

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